Hartmut Richter
Meine Themen

Typ AVATI

Almogaren XXXVIII (Institutum Canarium), Wien, 237-243
236 MMALMOGAREN XXXVIII/2007Almogaren XXXVIII / 2007
Wien 2007, Separata XXXVIII-12

Werner Pichler

Die AVATI-Inschriften von Fuerteventura (Kanarische Inseln)

Zusammenfassung:
In dieser kurzen Publikation wird der erste Versuch unternommen, über die mögliche Bedeutung der häufigsten Zeichenfolge unter den latino-kanarischen Inschriften Fuerteventuras, die auch auf Lanzarote vorkommt, nachzudenken. Der Autor formuliert die These, dass es sich bei den AVATI-Inschriften um Anrufungen eines großen "Vaters" = "Gottes" handeln könnte.

Abstract:
This short paper is a first trial to reflect about the possible meaning of the most frequent sequence of signs in the corpus of Latino-Canarian inscriptions on Fuerteventura, which appears on Lanzarote too. The author proposes the thesis that the AVATI-inscriptions could be read as invocations of a great "father" = "god".

Resumen:
En la presente publicación se realiza una primera tentativa de reflexión sobre el posible significado de la sucesión de signos más frecuente entre las inscripciones latino-canarias de Fuerteventura. El autor plantea la tesis de que en el caso de las inscripciones AVATI pudiera tratarse de invocaciones a un gran "padre" = "Dios".

Eine professionelle Analyse eines bislang unbekannten Zeichenmaterials wird heute nach ganz bestimmten standardisierten Kriterien durchgeführt: Nach einer möglichst sorgfältigen und möglichst lückenlosen Dokumentation erfolgt eine Sortierung und quantitative Erfassung aller Zeichen, der Vergleich mit verwandten Zeichensystemen, der Versuch einer Zuordnung der Zeichen zu Phonemen etc. Ein unverzichtbarer und häufig sehr aufschlussreicher Aspekt ist die Suche nach besonders häufig vorkommenden Zeichengruppen und die Entwicklung von Thesen über ihre mögliche Bedeutung.

Ein Beispiel aus Nordafrika: Unter den 1123 von Chabot im Jahre 1940 edierten libysch-berberischen Inschriften auf Steinplatten, die zum überwiegenden Teil als Grabstelen interpretiert werden können, ist die mit Abstand häufigste Zeichenfolge BNS: inkl. einiger unsicherer Belege kommt sie 225 mal vor! Während Rössler (1958:113) und Galand diese Zeichenfolge als "sei-ne Gemahlin" lesen, liest Chabot (1940:XVI) "sein Grab" und Février (1956:268) "seine Grabstele". Auch im Punischen steht 'bn für "Stein, Stele" und das Suffix –s kann mühelos als Possessivpronomen in der 3. Pers. sing.masc. erklärt werden. Diese Lesung der Zeichenfolge BNS stimmt semantisch hervorragend mit ihren Anbringungsorten überein. Genau so stimmig ist umgekehrt die Feststellung, dass BNS unter den Tausenden libysch-berberischen Felsinschriften Nordafrikas praktisch nicht vorkommt, da von ihnen kaum anzunehmen ist, dass sie überwiegend dem Totengedenken dienten.

Seit Beginn der Achtzigerjahre des vorigen Jahrhunderts wurden auf den beiden östlichsten Inseln des Kanarischen Archipels Felsinschriften entdeckt, die große Ähnlichkeiten vor allem mit flüchtigen lateinischen Kursivinschriften aus den Randzonen des Römischen Reiches aufweisen. Aufgrund ihrer doch sehr eigenständigen Ausprägung mit einer Vielzahl von Varianten und Ligaturen sowie deutlichen Einflüssen der libysch-berberischen Schrift wurde dieser Schrifttyp "latino-kanarisch" genannt. Seit Mitte der Neunzigerjahre liegt eine umfangreiche Dokumentation sowie Analyse der latino-kanarischen Inschriften der Insel Fuerteventura vor (Pichler 1993, 1994, 1995). Nachdem in den vergangenen Jahren viele generelle Fragen geklärt und für einige offene Fragen Thesen formuliert wurden, ist es nun an der Zeit, sich detaillierten Einzelfragen zu widmen. Etwa der mehrfach vorkommender Zeichenfolgen.

Auffällig unter den latino-kanarischen Inschriften Fuerteventuras ist das häufige Vorkommen der Zeichenfolge MAS. Wenn man die enge Verknüpfung mit nordafrikanischen Inschriften kennt, ist dies keine Überraschung: Auch dort ist das Segment MS (= Herr, Gott) in zahlreichen Personennamen (MSN, MSH, MSUN, MSNH etc.) sowie in Stammesbezeichnungen (MASAESYLI, MASSYLI etc.) enthalten.

Auch mehrere Zeichenfolgen, die unschwer als Personennamen zu erkennen sind, tauchen auf Fuerteventura mehrfach auf:
an(i)bal = Hannibal
iufa = Juba
sretan = Sretan.
Die auffälligste Folge von mehr als 3 Zeichen unter den latino-kanarischen Inschriften Fuerteventuras ist jedoch AVATI, vor allem, wenn man einige fragmentarische Beispiel und mögliche Varianten inkludiert (Abb. 1). Einige der fragmentarischen Zeilen sind unmittelbar neben vollständigen angebracht und es ist zu erkennen, dass die Unvollständigkeit auf ein Abschuppen der obersten Felsschicht zurückzuführen ist. Ob auch die beiden Zeilen AVTATI (Abb.1.9 und 1.10) und die abweichenden Vokalisierungen AVOTIN und AVUTIN (Abb. 1.8) in einer semantischen Beziehung zu AVATI stehen, ist fraglich. Es bietet sich weder für das zusätzliche –T noch für das auslautende –N eine plausible Erklärung an.

Dass die Zeichenfolge auch unter den relativ wenigen bislang auf der Nachbarinsel Lanzarote dokumentierten latino-kanarischen Zeilen nach bisherigem Forschungsstand viermal (in unterschiedlicher Vokalisierung: AVATA, AVAUTI, AWAUTI und AVAUTAN) auftaucht, bestätigt den vermuteten engen Zusammenhang dieser beiden Inschriftenkomplexe in Bezug auf ihre Urheber und deren Einwanderung (Abb. 2).

Längst kann durch zahlreiche Indizien belegt werden, dass die Schreiber der latino-kanarischen Zeilen in vielen Fällen identisch sind mit denen der libysch-berberischen Zeilen. Sehr überzeugende Indizien in dieser Richtung sind die Existenz von Digrafien (Personennamen, die nebeneinander in latino-kanarischer und libysch-berberischer Schrift eingeritzt wurden) sowie mehrere Beispiele, bei denen der Personenname in latino-kanarischer, die zugehörige Abstammungsbezeichnung (Sohn des xy) jedoch in libysch-berberischer Schrift eingetragen wurde. Es ist daher sehr verlockend, auch im Corpus der libysch-berberischen Inschriften Fuerteventuras (Pichler 1996) nach einem Äquivalent für die Zeichenfolge AVATI zu suchen. Tatsächlich gibt es an der Fundstelle "Morro de la Galera" (Fig. 1.1) sogar eine Digrafie: Rechts neben der waagrechten lateinischen Zeile wurde zweimal in senkrechten Zeilen dieselbe Lautfolge in der libysch-berberischen Konsonantenschrift eingeritzt. Eine neuerliche Überprüfung des Panels S5 (Pichler 1996:25) erbrachte das von der ursprünglichen Dokumentation etwas abweichende Ergebnis, dass es sich auch hier um eine Digrafie handelt: Der libysch-berberischen Zeichenfolge II X III entspricht die grafisch etwas misslungene waagrechte latino-kanarische Zeichenfolge AVATI. Einer weiteren, senkrechten latino-kanarischen Zeichenfolge fehlt nur das T (Abb. 3).

Im umfangreichen Repertoire der nordafrikanischen Inschriften (Chabot) kommt die entsprechende Zeichenfolge WT' nur einmal vor (RIL 331), es gibt jedoch mehrere Beispiele für MS-WT' (RIL 193, 417, 446). Versuch einer linguistischen Interpretation:
(a)ti taucht innerhalb des aus dem Altkanarischen überlieferten Sprachmaterials in zahlreichen Quellen, jedoch fast ausschließlich im Zusammenhang mit den Namen zweier heiliger Berge Gran Canarias auf (Quellenzitate nach Wölfel 1965:359):
atis dyrma: BERH 191, CHIL I/540 atis Tirma: VR I/93s
tis tyrma: ESC-MIL 44v
tis amago: ESC-MIL 44v
Die beiden Berge Tirma und Amago gehörten zu jenen Heiligtümern der kanarischen Inseln, von denen sich Eingeborene – aus unterschiedlichen Gründen – selbstmörderisch in die Tiefe stürzten. Es besteht also Grund für die Annahme, dass diese heiligen Berge bzw. die auf ihnen verehrten Gottheiten angerufen wurden (im Sinne von "Vater Tirma" bzw. "Vater Amago"). Gestützt auf den äußerst problematischen Text auf dem Perga-mentfragment Hardissons hatte Wölfel schon 1940 im Anhang zu seiner Torriani-Ausgabe (II, 214) "atis" als "Vater" gedeutet. "Atis aca" = "Vater unser" wäre ein stimmiger Beginn für den kurzen, als Altkanarisch interpretierten Text (Wölfel IV, & 37, S. 399 ff). Wölfel betont jedoch ausdrücklich, dass dieser Deutungs-versuch sehr hypothetisch sei. "ti" bedeutet im Berberischen automatisch auch ohne Pronomen "mein Vater", während man, um "der Vater" (irgend eines anderen Menschen) zu bezeichnen, "tis" schreibt. Sollte es sich bei "ti" in den kanarischen Inschriften tatsächlich um eine dem Touareg-Wort für "Vater" verwandte Bezeichnung handeln, was freilich nicht erwiesen ist, so könnte die Zeichenfolge AVATI folgendermaßen gelesen werden:

1. "Sohn meines Vater": vergleichbar mit der im Berberischen gebräuchlichen Formel g" –ma = der Sohn meiner Mutter (= mein Bruder).
2. "Das ist mein Vater". Kontext- und Fundortanalysen ergeben, dass die AVATI-Inschriften
• fast ausschließlich ohne Kontext eingeritzt wurden,
• in zwei Fällen dreimal nebeneinander geritzt wurden (z.B. Fig. 1.2),
• in fast allen Fällen (mit Ausnahme zweier unsicherer fragmentarischer Varianten) nicht in Küsten- oder Tallagen, sondern in unmittelbarer Nähe von Berggipfeln angebracht wurden.

Diese Beobachtungen könnten die Hypothese stützen, dass die AVATI-Inschriften in Zusammenhang stehen mit Anrufungen eines "Vaters" = "Gottes", der auf diesem Berg verehrt wurde.

Verzeichnis der Abbildungen
Abb. 1.1: Morro de la Galera (G II 4)
Abb. 1.2: La Fortaleza (F 1)
Abb. 1.3: Morro de la Galera (G II 6)
Abb. 1.4: Morro Pinacho (P I 2)
Abb. 1.5: Barranco del Cavadero (C I 9)
Abb. 1.6: Morro de la Galera (G II 5)
Abb. 1.7: Barranco del Cavadero (C II 9)
Abb. 1.8: Cuchillete de Buenavista (B II 3)
Abb. 1.9, 1.10: Morretes de Tierra Mala (T1)

Abb. 2.1: Femés 1 (Lanzarote)
Abb. 2.2: Las Peñitas (Lanzarote)
Abb. 2.3: Las Piletas (Lanzarote)
Abb. 2.4: Femés 1 (Lanzarote)

Abb. 3: Montañeta del Sombrero (S5)

Literatur
Chabot, J.B. (1940): Recueil des inscriptions libyques.- Impr. Nationale, Paris, XXIII + 246 S.Février, J.G. (1956): Que savon-nous du libyque.- Revue Africaine 100, 263-273
242 MMALMOGAREN XXXVIII/2007Pichler, W. (1993): Die Schrift der Ostinseln - Corpus der Inschriften auf Fuerteventura.- Almogaren XXIII, Hallein, 313-453
Pichler, W. (1994): Die Ostinsel-Inschriften Fuerteventuras, Transkription und Lesung.- Almogaren XXIV-XXV/1993-94, Hallein, 117-220
Pichler, W. (1995): Neue Ostinsel-Inschriften (latino-kanarische Inschriften) auf Fuerteventura.- Almogaren XXVI, Hallein, 21-46
Pichler, W. (1996): Libysch-berberische Inschriften auf Fuerteventura.- Almogaren XXVII, Vöcklabruck, 7-83
Ulbrich, H.-J. (1991): Felsbildforschung auf Lanzarote.- Almogaren XXI / 2 / 1990, Hallein 1991, 319 S.
Ulbrich, H.-J. (1996): Neue Felsbildstationen auf der Kanareninsel Lanzarote (II).- Almogaren XXVII, Vöcklabruck, 285-357
Rössler, O. (1958): Die Sprache Numidiens.- Zeitschrift für die Kunde des Morgenlandes. Bd. XLVIII, Wien, 282-311
Wölfel, D.J. (1940): Torriani, Leonardo: Die Kanarischen Inseln und ihre Urbewohner. Eine unbekannte Bilderhandschrift vom Jahre 1590.- Herausgegeben von D.J. Wölfel, Quellen und Forschungen zur Geschichte der Geographie und Völkerkunde. Bd. VI, K.F. Koehler, Leipzig, 323 S. (Nachdruck Hallein 1979)
Wölfel, D.J. (1965): Monumenta Linguae Canariae. Die kanarischen Sprachdenkmäler.- ADEVA, Graz, 928 S. ALMOGAREN XXXVIII/2007MM 243

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